NACH OBEN

Rechtliche und tatsächliche Hintergründe des Nikolaus-Beschlusses

Mit einem Ausgabenvolumen von knapp 294 Milliarden Euro und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von    11,3 % (im Jahr 2011) stellt das Gesundheitssystem einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor in Deutschland dar. Im Dezember 2011 waren rund 4,9 Millionen Menschen in Deutschland und damit etwa jeder neunte Beschäftigte im Gesundheitswesen tätig (Quelle: Statistisches Bundesamt). Zu diesem System gehören die unterschiedlichsten Beteiligten (oft auch als Stakeholder bezeichnet). Die größte Bedeutung kommt dabei wohl den Stakeholdergruppen (1) der Patienten, (2) der medizinischen und sonstigen Leistungserbringer (z.B. Ärzte, Krankenhäuser, Therapeuten und Gesundheitshandwerker), (3) der so genannten Leistungsträger (in erster Linie gesetzliche und private Krankenversicherungen), (4) der medizinisch-pharmazeutischen Forschung und Industrie sowie (5) der Gesundheitspolitik zu. All diese verfolgen dabei unterschiedliche, teilweise gegenläufige Interessen, die jede Stakeholdergruppe so weit wie möglich durchzusetzen versucht. Beispielsweise steht dem Interesse der Patienten an einer optimalen Versorgung das Interesse der Krankenkassen entgegen, die nur eine notwendige Versorgung tragen. Das Interesse der Leistungserbringer an einer möglichst hohen Vergütung kollidiert mit dem Interesse von Patienten und Krankenkassen an einer wirtschaftlichen Versorgung. Dem Interesse der Pharmaindustrie an möglichst unbeschränktem Marktzugang steht das Interesse der Patienten an wirksamen, sicheren und wirtschaftlichen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden entgegen. Die schwierige Aufgabe des Gesetzgebers ist es, diese Interessen so auszugleichen, dass eine funktionierende, qualitativ hochwertige und finanzierbare Gesundheitsversorgung sichergestellt ist.

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Gesundheit ist ein grundlegendes Gut von existentiellem Stellenwert; es ist eine der wesentlichen Grundvoraussetzungen zur Umsetzung von Lebensentwürfen und zur Wahrnehmung grundrechtlich garantierter Freiheiten. Dabei herrscht in unserer Gesellschaft ein weitgehender Konsens, dass die Chance auf Heilung und Linderung nicht vom Geldbeutel des Erkrankten abhängen darf. Entsprechend sind der Schutz der Gesundheit und die Gewährleistung einer medizinischen Versorgung, die unabhängig vom individuellen finanziellen Leistungsvermögen und für alle Bürger diskriminierungsfrei zugänglich ist, eine essentielle Grundaufgabe des Sozialstaates, oder besser: der Solidargemeinschaft. Diese Verpflichtung spiegelt sich verfassungsrechtlich wider, denn unter den Verfassungspositionen besitzen die Grundrechte des Kranken eine herausragende Stellung. So garantiert das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Es gewährleistet neben seiner Abwehrdimension, also dem Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, ein Recht auf Teilhabe an einem leistungsfähigen und diskriminierungsfrei zugänglichen Gesundheitswesen. Daneben ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG) die Verpflichtung zur Daseinsvorsorge, wozu auch die Krankenversorgung zählt. Mit seiner sogenannten Hartz IV-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit klargestellt, dass aus der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) ein unmittelbarer, individueller Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gegen die Solidargemeinschaft erwächst. Dazu gehören auch Leistungen der medizinischen Versorgung (BVerfG, Urt. v. 09.02.2010, Rdn. 135). Der Gesetzgeber ist diesem verfassungsrechtlichen Auftrag mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für ca. 90 % der Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik nachgekommen. Mit dieser Versicherungsform wird auch einkommensschwachen Bevölkerungsschichten ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht (BVerfG, Beschl. v. 20.04.2001, Rdn. 37).

Grundprinzipien der Gesetzlichen Krankenversicherung

Das heutige System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fußt auf historisch gewachsenen Grundprinzipien, die aus dem dargestellten verfassungsrechtlichen Rahmen resultieren und denen ein grundsätzlicher Wertekonsens des größten Teils der Bevölkerung zugrunde liegt.

Dabei ist der zentrale Grundsatz das Solidarprinzip. Einfach ausgedrückt, hilft nach diesem Prinzip der Gesunde dem Kranken. Die Leistungsfähigen stehen für die ein, die sich im Krankheitsfall nicht selbst helfen können. Dies geschieht natürlich nicht in einem konkreten Austauschverfahren, vielmehr werden die notwendigen finanziellen Mittel von den Versicherten gemeinsam aufgebracht. Der dafür von jedem einzelnen zu entrichtende Solidarbeitrag ist dabei nicht an das individuelle Risiko, sondern das Leistungsvermögen gemessen am Arbeitsentgelt angeknüpft. Spiegelbildlich stehen dabei allen Versicherten unabhängig von der Höhe ihres Solidarbeitrages dieselben Ansprüche auf Gesundheitsleistungen im Krankheitsfall zu.

Das Solidarprinzip entbindet den einzelnen jedoch nicht von persönlicher Verantwortung, denn neben dem Solidarprinzip basiert das System der GKV auf den Prinzipien der Eigenverantwortung und der Subsidiarität.  Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB V sind die Versicherten für ihre Gesundheit mit verantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder deren Folgen zu überwinden bzw. bewältigen. Allerdings ist diese Regelung weniger als konkrete Verpflichtung sondern vielmehr als Garantie autonomer Lebensführung gegenüber der Gefahr eines aus der Solidarität erwachsenden Kollektivismus zu verstehen. Ergänzend gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach jeder zunächst zur Selbsthilfe verpflichtet ist, bevor die Solidargemeinschaft für ihn eintritt. In der GKV spiegelt sich dieses Prinzip beispielsweise in Ausgrenzung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel wider.

Art und Umfang der im Krankheitsfall zu gewährenden Leistungen regeln das Sachleistungs- und das Bedarfsdeckungsprinzip. Danach erhalten Versicherte die für sie notwendigen Dienstleistungen (z. B. ärztliche Behandlung) oder Sachleistungen (z. B. Medikamente) unmittelbar, ohne dass diese zunächst vom Versicherten selbst vergütet werden müssten. Um dies sicherzustellen, schließen die Spitzenverbände der Krankenkassen Verträge mit den Verbänden der Erbringer medizinischer Leistungen (z. B. niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Physiotherapeuten usw.) zugunsten der versicherten Patienten, wodurch sich die Leistungserbringer verpflichten, die Versicherten zu behandeln, und die Krankenkassen sich verpflichten, diese Behandlungen vergüten. Der Leistungsumfang hat sich dabei am Bedarfsdeckungsprinzip zu orientieren. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf alle Leistungen, die notwendig sind, um Krankheiten zu erkennen, zu heilen, deren Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dieses Prinzip der Deckung des im Krankheitsfall notwendigen Bedarfs an Gesundheitsleistungen wird allenfalls mittelbar durch den Grundsatz der Beitragsstabilität durchbrochen oder eingeengt, der in erster Linie für die Vergütungsvereinbarungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern gilt.

Art, Umfang und Grenzen der notwendigen Gesundheitsleistungen im Krankheitsfall

Selbst für einen so wichtigen Aspekt der Daseinsvorsorge wie das Gesundheitssystem stehen keine unbegrenzten finanziellen Mittel zur Verfügung. Daher resultiert aus den dargestellten verfassungsrechtlichen Grundsätzen und den daraus erwachsenen Prinzipien ein Spannungsfeld zwischen dem Anspruch des Versicherten auf alle notwendigen Leistungen im Krankheitsfall und der Verpflichtung des Sozialstaates, ein leistungsfähiges Gesundheitssystem vorzuhalten. Denn angesichts des stetigen medizinischen Fortschritts und der damit einhergehenden Änderung in der Wahrnehmung, welcher Zustand als gesund oder krank zu bewerten sei, muss der Gesetzgeber sicherstellen, dass das System als Ganzes im Hinblick auf die individuellen Ansprüche des einzelnen Versicherten nicht finanziell überfordert wird und möglicherweise insgesamt zusammenbricht. Der Gesetzgeber muss also auf der einen Seite dafür sorgen, dass Versicherte mit modernen, wirksamen und sicheren Gesundheitsleistungen versorgt werden, auf der anderen Seite dürfen die daraus resultierenden Kosten das System nicht überfordern. Dabei spielen die folgenden Fragen (u. a.) eine entscheidende Rolle:

  • Wie viel Geld ist uns Gesundheit wert?
  • Wie viel Geld wollen wir für welchen therapeutischen Nutzengrad investieren?
  • Wie hoch müssen die Erfolgsaussichten insbesondere von kostenintensiven Medikamenten oder Behandlungsmethoden sein?
  • Wie viel Geld sind uns Innovationen wert?
  • Wie hoch muss der Zusatznutzen eines neuen Medikaments oder einer Methode sein und wie viel Geld ist uns das wert?
  • Nehmen wir für einen Zusatznutzen ein höheres Risiko oder Nebenwirkungen in Kauf?

Die Liste ließe sich fortsetzen. Die damit aufgeworfenen Aspekte verdeutlichen aber, dass bei weitem nicht alles an medizinischen Maßnahmen geleistet werden kann, was möglicherweise zur Verfügung steht. Dabei dürfte zumindest dahingehend ein allgemeiner Konsens bestehen, dass – selbst im Falle einer lebensbedrohlichen Erkrankung – nicht jeder noch so geringfügige therapeutische Nutzen die Aufwendung beliebig hoher Kosten rechtfertigt. Dasselbe gilt für Maßnahmen, die nur minimale Aussicht auf Erfolg versprechen oder mit denen ein ganz erhebliches Risiko im Hinblick auf Nebenwirkungen oder Folgeschäden einhergeht. Sinnvollerweise muss der Umfang der durch die GKV zu leistenden medizinischen Maßnahmen im Hinblick auf ihre Qualität, Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit begrenzt werden – anders gesagt, der Gesetzgeber muss Begrenzungen schaffen, um Qualität und Wirtschaftlichkeit sicherstellen zu können.

Dabei müssen derartige Leistungsbegrenzungen aber wiederum im Einklang mit den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Positionen stehen. Es verwundert nicht, dass im Lichte dieser Problemstellungen der konkreten Entscheidung, welche Methode oder welches Medikament im konkreten Behandlungsfall anzuwenden sei, ein komplexes Regelungssystem zugrunde liegt.

Anspruchskonkretisierung und -begrenzung

Zur Sicherstellung einer medizinischen Versorgung, deren Qualität und Wirksamkeit dem aktuellen, allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht, die aber andererseits das System nicht finanziell überfordert, hat der Gesetzgeber den folgenden Rahmen gezogen: Grundsätzlich haben gesetzlich krankenversicherte Patienten Anspruch auf Leistungen zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten (§ 11 Abs. 1 SGB V). Sie haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um Krankheiten zu erkennen, zu heilen, deren Verschlimmerung zu verhindern und Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). In diesem Rahmen dürfen medizinische Maßnahmen zur Anwendung kommen, deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) und die wirtschaftlich im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V sind. Das ist der Fall, wenn jene Maßnahmen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich im engeren Sinne sind und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

In diesem Sinne zweckmäßig sind Leistungen, die objektiv auf ein Behandlungsziel (Verhütung, Früherkennung, Krankenbehandlung, Rehabilitation) ausgerichtet und auch hinreichend wirksam sind. Die Leistung muss also überhaupt dazu geeignet sein, das geplante Behandlungsziel erreichen zu können. Eine solcherart zweckmäßige Maßnahme ist ausreichend, wenn sie nach Umfang und Qualität hinreichende Chancen auf den Heilerfolg bzw. das Erreichen oder zumindest Fördern des Behandlungsziels bietet. Mit diesem Kriterium wird somit eine Grenze nach unten gezogen, indem ein gewisser qualitativer Mindeststandard sichergestellt wird. Demzufolge sind solche Maßnahmen ausgeschlossen, die – ausgehend vom jeweiligen Zweck – nicht den gewünschten Erfolg versprechen.

Dagegen beinhalten die Begriffe Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit im engeren Sinne eine Begrenzung nach oben dar. Notwendig ist eine Leistung, wenn gerade diese nach Art und Ausmaß zur Erreichung des Behandlungsziels zwangsläufig, unentbehrlich, unvermeidlich ist. Der Begriff enthält demnach ein Übermaßverbot und verdeutlicht, dass der Leistungsumfang sich auf das Notwendigste im wörtlichsten Sinne beschränkt, also keine ‚Wunschmedizin’ beansprucht werden kann. Wirtschaftlichkeit im engeren Sinne ist die Erbringung der erforderlichen, ausreichenden und zweckmäßigen Leistung mit dem geringstmöglichen Aufwand. Mit diesem das allgemeine verwaltungstechnische Gebot der Sparsamkeit konkretisierenden Prinzip soll sichergestellt werden, dass der notwendige Finanzbedarf nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung der Beitragspflichtigen führt.

Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit

Die beschriebenen Leistungsparameter zweckmäßig, ausreichend, notwendig und wirtschaftlich sind sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe, die in der Praxis konkretisiert werden müssen. Dabei ist zwischen der systemischen Ebene und der konkreten klinischen Behandlungssituation am Krankenbett zu unterscheiden. Vereinfacht gesagt, wird auf der systemischen Ebene entschieden, welche medizinischen Maßnahmen überhaupt im Rahmen der GKV angewendet werden dürfen. Aus diesem Pool muss der behandelnde Arzt in Abstimmung mit dem Patienten die Maßnahme auswählen, die den genannten Behandlungsparametern entspricht.

Auf der systemischen Ebene hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Aufgabe, zu entscheiden, welche neuen medizinischen Maßnahmen in der GKV geleistet werden dürfen und welche davon ausgeschlossen sind bzw. welche Maßnahmen nicht mehr angewendet werden dürfen. Der G-BA ist das höchste Gremium in der Selbstverwaltung der GKV (www.g-ba.de). Er setzt sich zusammen aus Vertretern des GKV-Spitzenverbandes, den Spitzenverbänden der Krankenhäuser, Vertragsärzten und Zahnärzten, sowie Patientenvertretern. Eine wesentliche Aufgabe des G-BA ist die Qualitätssicherung in der GKV. Dazu legt das Gremium durch Richtlinien fest, welche medizinischen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und somit zum Leistungskatalog der GKV gehören. Dabei ist zwischen den einzelnen Leistungssektoren zu unterscheiden:

In der ambulanten Versorgung dürfen neue Behandlungsmethoden erbracht werden, wenn deren Nutzen (Wirtschaftlichkeitsgebot) vom GBA anerkannt worden ist. Es handelt sich gewissermaßen um eine Positivliste, die diejenigen Methoden erfasst, auf die der Vertragsarzt zurückgreifen darf. Krankenhäuser dürfen im Gegensatz zu den niedergelassenen Vertragsärzten grundsätzlich alle Leistungen erbringen, die erforderlich, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Der G-BA kann aber durch Richtlinienerlass bestimmte Behandlungsmethoden ausschließen, die diesen Anforderungen nicht entsprechen. Es gilt also eine Negativliste. Ganz anders ist die Rechtslage hingegen bei den Arzneimitteln. Arzneimittel, die nach den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes (AMG) zugelassen sind, können zunächst zu Lasten der GKV verordnet werden. Allerdings sind der G-BA und das Gesundheitsministerium befugt, unwirtschaftliche Arzneimittel aus dem Leistungskatalog auszuschließen (Negativliste). Als unwirtschaftlich gelten Arzneimittel, die im Hinblick auf das Therapieziel nicht die erforderlichen Inhaltstoffe enthalten, deren Wirksamkeit aufgrund der Vielzahl enthaltener Inhaltsstoffe nicht mit Sicherheit beurteilt werden kann und deren Nutzen nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist.

2. Durchbrechung der leistungsbeschränkenden Normen

Derartige Leistungsbegrenzungen, die zu einem ausgewogenen Verhältnis im Spannungsfeld zwischen der Aufrechterhaltung des Systems und den grundrechtlich geschützten Positionen der davon Betroffenen führen, sind verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden, so das Bundesverfassungsgericht (siehe Rdn. 57). Im konkreten Einzelfall kann aber eine Durchbrechung dieser Leistungsbeschränkungen verfassungsrechtlich geboten sein. Eben diese Notwendigkeit hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Nikolaus-Beschluss festgestellt. Ausgehend von der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG i.V.m. Art. 2 I GG und dem Sozialstaatsprinzip verlangte es eine verfassungskonforme Auslegung der leistungsbeschränkenden Normen im Falle einer:

  • lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit,
  • für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen und
  • für die eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die begehrte Behandlungsmethode besteht.

Weitergehende Bedeutung des Nikolaus-Beschlusses

Der Gesetzgeber hat sieben Jahre nach Erlass des Nikolaus-Beschlusses die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mit dem zum 1. Januar 2012 in Kraft getretenen § 2 Abs. 1a SGB V umgesetzt und somit gesetzlich verankert. Dabei ist er nicht über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgegangen. Darüber hinaus hat der Nikolaus-Beschluss eine nicht geringe Bedeutung für die derzeit anhaltende Diskussion über die Priorisierung und Rationierung medizinischer Leistungen in der GKV. Stetiger medizinischer Fortschritt und damit ansteigende Kosten lassen befürchten, dass – überzogen und zugespitzt formuliert  – zukünftig nicht mehr alles, was an medizinischen Maßnahmen (sinnvollerweise) möglich ist, auch allen zur Verfügung gestellt werden kann. Bei dieser interdisziplinär von (u. a.) Medizinern, Ethikern, Ökonomen, Soziologen und Juristen geführten Diskussion geht es konkret um die Frage, wie und anhand welcher Maßstäbe die zur Verfügung stehenden Mittel verteilt werden sollen. Dabei geht es aber nicht in erster Linie darum, notwendige Leistungen vorzuenthalten, sondern darum, welche medizinischen Belange vorrangig zu bedienen sind. Soweit dies dann im Ergebnis zu Leistungsbeschränkungen führt, stellen die Vorgaben des Nikolaus-Beschlusses eine absolute Grenze dar.