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Der Nikolaus-Beschluss

Ausgehend von den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) i. V. m. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit) verlangte das BVerfG mit dieser Entscheidung eine verfassungskonforme Auslegung der leistungskonkretisierenden Normen des SGB V im Hinblick auf eine ambulante Behandlungsmethode. Im entschiedenen Fall betraf dies die immunbiologische Therapie bei Duchenne'scher Muskeldystrophie.

Nun müssen unter den drei Voraussetzungen eines hinreichenden Schweregrades (1), dem Fehlen zumutbarer Alternativen im GKV-Leistungskatalog (2) und dem Bestehen einer hinreichenden Heilungschance (3) Leistungen gewährt werden, selbst wenn diese dem einfachen Recht nach nicht vorgesehen sind. Diese drei Voraussetzungen hat das BVerfG dahin gehend konkretisiert, dass

  1. für eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung,
  2. für die eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht,
  3. eine vom Versicherten gewählte, ärztlich angewandte Behandlungsmethode, die eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf erlaubt,

gewährt werden muss.

Diese Entscheidung ermöglicht eine Durchbrechung der vielfachen untergesetzlichen Konkretisierungen des Leistungskataloges und der für diese Konkretisierung bestimmten Verfahren. Diese Verfahren enthalten typischerweise ein Leistungsverbot bis zum Abschluss der Verfahren oder ermöglichen zumindest den Ausschluss von Leistungen. Dabei erfolgt eine Aufnahme in den Leistungskatalog häufig nur dann, wenn der Nutzen einer medizinischen Methode nach den Maßgaben der evidenzbasierten Medizin nachgewiesen ist und die Methode wirtschaftlich ist. Insoweit dominieren hohe Anforderungen und Jahre in Anspruch nehmende Bewertungsverfahren, die regelmäßig mit Erwägungen des Patientenschutzes und der finanziellen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung gerechtfertigt werden. Diese hohen sachlichen und formellen Anforderungen werden mit dem Nikolaus-Beschluss im Fall hinreichender Schwere und Alternativlosigkeit modifiziert.

Dementsprechend ist die Entscheidung in ihrer grundsätzlichen Aussage wie in ihren konkreten Folgerung sehr umstritten (s. u.a. Huster, JZ 2006, 466 ff). Je nach Auffassung vermag sie als Risiko für die zukünftige Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens interpretiert werden oder als wertvolle Orientierung, welche Leistung ein solidarisches Gesundheitssystem, das über Beiträgen von Pflichtmitgliedern finanziert wird, in jedem Fall vorhalten muss. Deswegen ist es für Wissenschaft und Praxis von großer Bedeutung, wie diese Rechtsprechung von der Sozialgerichtsbarkeit rezipiert und angewendet wird. Von hoher Relevanz ist insbesondere die Konkretisierung der oben genannten drei Voraussetzungen durch das Bundessozialgericht (BSG) und die Instanzgerichte. Das soll an dieser Stelle dokumentiert werden.

Die Dokumentation beruht auf der Auswertung von Entscheidungen, die in der Datenbank sozialgerichtsbarkeit.de und juris.de eingestellt sind und die auf die Entscheidung des BVerfG Bezug nehmen. Dokumentiert werden der Instanzenzug und das Ergebnis der letztinstanzlichen Entscheidung, soweit diese zur Anwendung der Grundsätze des BVerfG aus der Entscheidung vom 6.12.2005 Stellung nehmen. Dazu werden die Entscheidungen danach eingestuft, ob sie sich im Rahmen der Rechtsprechung des BSG, des BVerfG oder außerhalb beider Entscheidungen bewegen. Grundlage für diese Einstufung der Entscheidungen sind die aktuellsten Maßgaben des BVerfG und des BSG.